Informations- & Beratungsbedarfe
Das Leistungssystem für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen ist in Deutschland vergleichsweise komplex. Es wird schon mehrfach reformiert und verlangt ein hohes Maß an Eigeninitiative und Kompetenz. Dabei spielt eine fach- und sachgerechte sowie unabhängige Beratung eine wichtige Rolle. Wie in anderen Lebensbereichen auch gewinnen bei der Informationsbeschaffung soziale Medien an Bedeutung, da ihre Nutzung überaus niedrigrschwellig ist. Ferner ist zu beobachten, dass auch in der älteren Bevölkerung die Internetnutzung ständig zunimmt, sodass davon auszugehen ist, dass pflegebezogene Informationen zukünftig verstärkt aus diesem Medium generiert werden. Das ist nicht unproblematisch, da die Qualität, Evidenz und Vertrauenswürdigkeit der im Netz zugänglichen Informationen vielfach nicht gesichert ist.
Unsere Befragungen von 65- bis 75-Jährigen zeigen, dass Informationen zu Pflegethemen in der Regel erst dann gesucht werden, wenn eine akute Notwendigkeit besteht, z. B. beim Eintreten der Pflegebedürftigkeit eines Familienangehörigen. Dieses Verhalten ist verständlich und auch beim Informationsverhalten anderer (belastender) Themen beobachtbar (wie z. B. bei Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten, Organspende usw.) Andererseits ist die Pflegeabhängigkeit inzwischen ein allgemeines und daher vorhersehbares Lebensrisiko – zumindest im hohen Alter, das von immer mehr Menschen erreicht wird. Nicht selten verschlechtern sich Selbstpflegefähigkeiten im Alter recht plötzlich (z. B. nach einem Sturz, Schlaganfall und/oder längerem Krankenhausaufenthalt), sodass Unterstützungsleistungen möglichst schnell benötigt werden.
Der Mangel an Wissen, Kenntnissen sowie Informationen kann dann die Lebens- und letztlich auch Versorgungssituation deutlich erschweren bzw. negativ beeinflussen. Die Wissensaneignung erst in einer Akutsituation bedeutet zum einen zusätzliche Belastungen; zum anderen benötigt Ihre Realisierung oftmals einen längeren administrativ-organisatorischen Vorlauf (Antrag auf Leistungen nach SGB XI ggf. auch SGB V, ärztliche Verordnungen, Begutachtungsverfahren durch MDK, Vertrag mit professionellen Pflegeleistungsanbietern, Heimplatz usw.). In diesen Fällen können die im Vorfeld mangelnde Auseinandersetzung mit Fragen rund um eine eventuelle eigene Pflegebedürftigkeit sowie die jetzt erst einsetzende Informationssuche wertvolle Zeit kosten und die akute Pflegesituation verschlechtern.
Die soziale Pflegeversicherung geht, wie keine andere Sozialversicherung in Deutschland, von einer Eigenbeteiligung der Betroffenen aus. Das heißt, sie bietet quasi nur einen Teilkaskoversicherungsschutz. Vielfach ist dies in der (älteren) Bevölkerung wenig präsent und daher auch kein nennenswerter Bestandteil ihrer Lebensplanung für das Alter. Außerdem kursieren nach wie vor (positiv wie negativ) falsche Vorstellungen, etwa über die Kosten für ein Leben im Heim oder über die Unterhaltspflichten von Kindern/Schwiegerkindern gegenüber ihren pflegebedürftigen Eltern.
Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass bei der Suche nach Gesundheitsinformationen Ärztinnen und Ärzte das größte Vertrauen genießen. Analog dazu sollten pflegespezifische Informationen von Pflegeexpertinnen und -Experten vermittelt werden, da sie dazu unter allen Gesundheitsfachberufen über die höchste Expertise verfügen (müssten). Dies könnte ein zukünftig auszubauendes Tätigkeitsgebiet beispielsweise für akademisch ausgebildete Pflegekräfte sein. Darüber hinaus sollten (ambulante und stationäre) Pflegeinrichtungen bedenken, dass die Informationszufriedenheit ihrer Klienten*innen in unmittelbarem Zusammenhang zu deren Zufriedenheit mit der Einrichtung steht. Insofern trägt eine transparente, realistische Informationsvermittlung u. a. zur Verbesserung des teils negativen Images institutionalisierter beruflicher Pflege bei (Altenheim, Krankenhaus).
Zentrale Projektergebnisse
- Ältere (überwiegend) nicht pflegebedürftige Menschen beziehen ihre Informationen rund um das Thema „Pflege im Alter“ weit überwiegend aus ihrem sozialen Umfeld (75,3 %) und den Medien (57,1 %).
- Trotz des Ausbaus von z. B. Pflegeberatungsangeboten (Pflegestützpunkte) spielen institutionalisierte Beratungs- und Informationsangebote bei der Informationsbeschaffung bei den 65- bis 75-Jährigen derzeit nur eine marginale Rolle (26,5 %).
- In gut jedem zehnten Fall (13,6 %) haben sich die Befragten noch gar nicht über das Thema informiert.
- Lediglich knapp ein Viertel (24,9 %) der Befragten fühlt sich „gut‟ informiert über das Thema Pflege im Alter.
- Immerhin 29,8 % empfinden ihren entsprechenden Informationsstand als eher „schlecht‟ oder „sehr schlecht‟.
- Erwartungsgemäß fühlen sich Personen mit Erfahrungen in der informellen pflegerischen Versorgung besser informiert als diejenigen, die noch nie an der Pflege einer nahe stehenden Person beteiligt waren.
- Darüber hinaus bereiten vielen älteren Menschen Fragen zur eigenen finanziellen Beteiligung bei Pflegebedürftigkeit große Sorgen.
Handlungs-
empfehlungen
- Pflegeberatungsangebote sollten sich unabhängig von ihrer institutionellen Anbindung (Kommune, Wohlfahrtsverband bzw. Pflegeeinrichtung) hinsichtlich ihrer Niederschwelligkeit und allgemeinen Erreichbarkeit überprüfen bzw. überprüft werden.
- Derzeit werden Pflegeinformationen häufig erst im akuten Bedarfsfall eingeholt. Im Sinne eines präventiven Vorgehens sollte das Thema „Pflege im Alter“ durch eine breit angelegte Informationskampagne auf Bundes-, Landes- sowie auf kommunaler Ebene adressiert werden.
- Pflegeberatung sollte neue innovative Formen erproben, die dem Primat folgen, dass die Beratung (möglichst nah) zu den Menschen kommt und nicht umgekehrt, z. B. durch Infostände auf Märkten, in Einkaufszentren, im öffentlichen Raum (Infokioske, Infobusse in ländlichen Regionen usw.).
- Angebote für präventive Hausbesuche bei älteren Menschen mit und ohne Pflegeabhängigkeit sind auf lokaler Ebene im Rahmen der Altenhilfeplanung dringend auszubauen.
- Personalverantwortliche in Pflegeeinrichtungen sollten die Beratungskompetenz Ihrer Mitarbeitenden fördern. Legen Sie dabei einen Fokus auf die Digitalkompetenz.
- Setzen Sie sich beispielsweise im Rahmen regionaler Pflegekonferenzen dafür ein, dass die Infrastruktur für Pflegeberatung (Stärkung der Pflegestützpunkte) ausgebaut wird. Gute Beratung nutzt sowohl Pflegebedürftigen, Angehörigen als auch Pflegeeinrichtungen.
- Orientieren Sie sich bei der Ausrichtung Ihrer Beratungsangebote an aktuellen politischen Konzeptionen, wie z. B. das Konzept der Pflege-Co-Piloten. Damit stellen Sie die Weichen für die Zukunft.
- Transparente Informationen zum Leistungsspektrum sollten integraler Bestandteil jeder Unternehmenspolitik sein und sich auch an zukünftige Nutzer*innen richten. Dies bietet älteren Menschen die Möglichkeit, sich mit den zu erwartenden Leistungen im Falle einer Pflegebedürftigkeit auseinanderzusetzen und sie mit eigenen Vorstellungen und Ansprüchen abzugleichen. Pflegeunternehmen können auf diese Weise Enttäuschungen und Konflikten mit ihren Klient*innen vorbeugen.
- Aus Sicht potenzieller Klient*innen sind vor allem Auskünfte zu folgenden Fragen bedeutsam: Wie sieht das Leistungsspektrum der Einrichtung aus? Welche individuellen Kosten sind damit verbunden? Über welche Qualifikationen verfügen die Pflegenden? Was wird für ihre fachliche Weiterbildung unternommen? Mit welchen Wartezeiten bis zum Vertragsabschluss ist zu rechnen? Und warum ist dies so? Inwieweit kann trotz Pflegebedürftigkeit weiter individuellen Vorlieben nachgegangen werden? Wie wird die Privatheit geschützt? Mit welcher Unterstützung kann gerechnet werden, um weiterhin am sozialen Leben teilzuhaben zu können?
Projektbezogene Publikation
- Boscher C., Steinle J., Fischer F., Winter M. H.-J. (2021):
Informationen zu Pflegethemen: Informationsverhalten und Informationsgrad im Kontext eigener Pflegeerfahrung.
Pflegekongress21, 16.-17.09.2021 (online)
Weiterführende
Informationen
Praxisbeispiel
Im Innovationsfondsgeförderten Projekt „ReKo – Regionales Pflegekompetenzzentrum“ wird derzeit im ländlichen Raum der Landkreise Grafschaft Bentheim und Emsland ein lokales Versorgungsnetzwerk aufgebaut. Über Pflegestützpunkte, Sozialdienste der Kliniken oder durch persönliche Kontaktaufnahme können sich alle Menschen in den Modelllandkreisen an das ReKo wenden, die aktuell oder zukünftig Pflege- oder Hilfebedarfe haben (werden). Case Manager beraten Pflegebedürftige zu Hause, ermitteln gemeinsam mit ihnen die Bedürfnisse und Bedarfe und entwickeln einen individuellen Versorgungsplan. Alle Prozesse, die Organisation und Koordination des Versorgungsplans werden zentral durch das Case Management organisiert. Die Kollaboration sämtlicher an der medizinischen und pflegerischen Versorgung Beteiligter (z. B. Krankenhäuser, Pflegedienste und -heime, Therapeuten, Kommunen, Apotheken etc.) wird über eine digitale Plattform organisiert. Sie soll die regionale Zusammenarbeit vereinfachen. Ausführliche Informationen zu dem Innovationsprojekt finden Sie auf der Projektwebsite. Weitere Praxisprojekte zum Themengebiet finden Sie in unserer Projektdatenbank.
Linksammlung
- Bundesarbeitsgemeinschaft Seniorenbüros (o. J.):
BaS – Seniorenbüros. Was sie ausmacht. Wie sie arbeiten. Wo sie sind.
Bonn: Bundesarbeitsgemeinschaft Seniorenbüros e. V. - Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (o. J.):
Familienpflege Zeit – Zeit für Pflege und Beruf. Wege zur Pflege.
Berlin: bmfsfj. Referat 302 – Familienpflegezeit, Pflegende Angehörige. - Pflegestützpunkte Baden-Württemberg (o. J.):
Beratungs- und Kontaktstellen der Pflegestützpunkte in Baden-Württemberg.
Stuttgart: Geschäftsstelle der Kommission Pflegestützpunkte Baden-Württemberg; c/o Kommunalverband Jugend und Soziales. - Verbraucherzentrale Baden-Württemberg (o. J.):
Pflege zu Hause.
Stuttgart: Verbraucherzentrale Baden-Württemberg e. V.